Leidensdruck verstehen – Warum wir erst handeln, wenn’s schmerzt

In jedem von uns gibt es Momente, in denen das Leben zur Herausforderung wird. Manchmal sind es kleine Stolpersteine, die uns ärgern – manchmal jedoch ist das Gefühl tiefer und drängender: eine Form von Druck, der uns innerlich auffrisst, aber auch die Kraft birgt, uns voranzutreiben. Genau hier setzt der Leidensdruck an – jener mentale Druck, der aus belastenden und manchmal als ausweglos empfundenen Lebenssituationen entsteht. Aber was bedeutet dieser Begriff genau, und warum ist Leidensdruck für viele der Startschuss in eine positive Veränderung?

Was ist Leidensdruck?

Leidensdruck ist ein Phänomen, das bei vielen Menschen auftritt, wenn die negativen Folgen ihres Verhaltens oder ihrer Situation zu groß werden. Sei es in der Form eines belastenden Jobs, einer ungesunden Beziehung oder langjähriger Gewohnheiten – Menschen sind oft bereit, ihr Verhalten erst dann zu ändern, wenn sie den Schmerz nicht mehr aushalten. Dieser Druck, die starke psychische Belastung, schafft die Bereitschaft, aktiv zur Veränderung beizutragen und eine schwierige Lebenssituation zu verbessern.

Dr. Tillmann Ruland beschreibt diesen Mechanismus treffend: „Oft ertragen Betroffene ihren sehr hohen Leidensdruck bis zu sieben Jahre, bevor sie sich gezielte Hilfe holen.“ Ein Gedanke, der verdeutlicht, wie lange Menschen oft ausharren, bevor der Druck so groß wird, dass sie ins Handeln kommen.

Beispiele aus dem Alltag

Betrachten wir einmal konkrete Situationen: Da ist zum Beispiel die Person, die seit Jahren in einem unglücklichen Job feststeckt und jeden Morgen mit Bauchschmerzen aufwacht, weil sie nicht weiß, wie sie den Tag überstehen soll. Oder der Mensch, der in einer Beziehung lebt, in der er sich weder wertgeschätzt noch gehört fühlt. Solche Szenarien haben eine Gemeinsamkeit – sie schaffen Leidensdruck, der früher oder später die Notwendigkeit einer Veränderung aufwirft.

Verdeckter Widerstand – Wenn Verdrängung den Leidensdruck verstärkt

Manchmal tritt Leidensdruck nicht als deutliches Signal auf, sondern versteckt sich geschickt im Bewusstsein. Diesen Mechanismus nennt man Verdrängung: Eine Form des psychologischen Selbstschutzes, bei der belastende Gefühle und unangenehme Wahrheiten einfach „weggeschoben“ werden. Die Seele versucht so, den akuten Schmerz zu vermeiden, indem sie das Problem ins Unterbewusstsein verlagert – ein Konzept, das vor allem durch Sigmund Freud bekannt wurde.

Verdrängung kann kurzfristig entlastend wirken, denn sie erspart uns den direkten Schmerz und das unangenehme Eingeständnis, dass eine Veränderung nötig ist. Langfristig jedoch staut sich das Verdrängte oft in Form von innerem Druck, der sich in anderen, unerwarteten Symptomen äußert: Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen oder sogar körperliche Beschwerden.

Wenn Dauerbelastung zur Depression wird

Leidensdruck kann in manchen Fällen so intensiv werden, dass er über bloße Belastung hinausgeht und zu einer schweren psychischen Erkrankung führt: der Depression. Anders als vorübergehender Kummer oder Alltagsstress wird aus einer Dauerbelastung eine Depression, die sich auf Denken, Fühlen und Handeln auswirkt. Selbst kleine Aufgaben und alltägliche Herausforderungen erscheinen nahezu unüberwindbar.

Eines haben die meisten depressiven Episoden gemeinsam: Die Energie, die Leidensdruck eigentlich mobilisieren könnte, erscheint blockiert und das Gefühl von Hoffnungslosigkeit tritt an ihre Stelle. Betroffene verlieren oft den Glauben daran, dass eine Verbesserung möglich ist, und fühlen sich innerlich wie „eingesperrt“.

Wie Leidensdruck die Motivation für Veränderungen fördert

Leidensdruck ist oft eine Art „Aufwecker“: Er zeigt uns, dass es so nicht weitergehen kann. Interessanterweise dient dieser Druck als wichtige Therapiemotivation, was zum Beispiel im „Fragebogen zur Messung der Psychotherapiemotivation“ (FMP) zur Anwendung kommt. Leidensdruck kann der notwendige Funke sein, der den Mut für Therapie oder andere Veränderungen entflammt.

Bewährte Strategien für eine höhere Lebensqualität durch Veränderung

Wer den Mut aufbringt, dem Leidensdruck nachzugeben und die Situation zu ändern, verbessert meist seine Lebensqualität spürbar. Das klingt einfach, aber in Wirklichkeit erfordert es oft, Ängste und Unsicherheiten zu überwinden, die in der Veränderung verborgen liegen. Kleine Schritte, das Setzen von realistischen Zielen und das Akzeptieren von Rückschlägen sind dabei wichtig.

Manchmal ist die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen nicht nur rational begründet, sondern auch stark emotional. Oft hilft es, beide Ebenen miteinander zu verbinden: sich selbst bewusst zu machen, dass die Veränderung nicht nur „Sinn ergibt“, sondern auch gut tut.

Es kann hilfreich sein, bewusst nach innen zu schauen und sich zu fragen, welche Themen im Hintergrund wirken. Ein bewusster Umgang damit kann helfen, alte Muster zu durchbrechen und den Druck langsam in eine konstruktive Kraft zu verwandeln. Selbst kleine Momente der Achtsamkeit oder Gespräche mit vertrauten Personen helfen oft, verdrängte Gefühle und Gedanken hervorzuholen – und so den ersten Schritt zu machen, um diese zu lösen.

Es ist ganz normal, dass Ängste und Unsicherheiten aufkommen. Sie sind ein Teil des Prozesses und zeigen uns, dass wir uns in unbekanntes Terrain wagen. Dieser Schritt ist jedoch wichtig und oft unvermeidlich, um weiterzukommen. Dabei hilft es, auf sich selbst zu hören, sich kleine Erfolge zu gönnen und den Weg Schritt für Schritt zu gehen.

Leidensdruck als Antrieb

Leidensdruck ist also kein Feind, sondern ein starker Antrieb, der uns zu Veränderung und Wachstum motivieren kann. Indem wir uns dem Druck stellen, eröffnen wir uns die Möglichkeit, uns selbst neu zu entdecken, das Leben bewusster zu gestalten und zu einer neuen inneren Freiheit zu finden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert